Der Bericht ist eine Blamage für den Finanzstandort Deutschland. Die Europäische Wertpapieraufsicht ESMA hat untersucht, ob die deutschen Aufsichtsbehörden im Fall Wirecard ihre Aufgabe richtig erledigt haben. Das Ergebnis: Mängel, Versäumnisse und Kompetenzwirrwarr im Zusammenhang mit dem Wirecard-Bilanzbetrug.
Der Zahlungsdienstleister Wirecard galt als die deutsche Antwort auf das amerikanische Silicon Valley. Tausende Anleger hatten große Hoffnungen in das Unternehmen gesetzt – viele davon auch große Teile ihrer Ersparnisse.
Doch das Wunder aus dem beschaulichen Aschheim hat sich als gigantisches Lügenkonstrukt und als vermutlich größter Wirtschaftsskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte entpuppt. Wirecard ist pleite, angebliche Milliardenwerte sind aus der Bilanz verschwunden oder waren nie da.
Am Pranger stehen die, die bei Wirecard nicht so genau hingeschaut haben
Laut Staatsanwaltschaft sollen die Manager die Bilanz mit Luftbuchungen in Asien aufgebläht und damit Verluste im Kerngeschäft kaschiert haben. Allein Banken und Investoren seien um mehr als drei Milliarden Euro geprellt worden. Am Pranger stehen nun vor allem jene, die offenbar nicht ganz so genau hingeschaut haben.
Zwei Behörden sollten die Bilanzen des betrügerischen Unternehmens kontrollieren: die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), ein privater Verein, der 2005 als Antwort auf vorangegangene Bilanzskandale gegründet worden war. ESMA stellt in seinem Bericht bei beiden Stellen und bei der Zusammenarbeit der beiden erhebliche Defizite fest.
Der für Olaf Scholz politisch heikelste Vorwurf der Prüfer: Sein Ministerium halte die BaFin an einer zu kurzen Leine. Die Gefahr sei deshalb groß, dass Ministeriumsvertreter Einfluss auf die Arbeit der BaFin nehmen würden.
„Im Fall der BaFin gibt es angesichts der Frequenz und der Detailtiefe der Berichtspflichten ein erhöhtes Risiko, dass das Bundesfinanzministerium Einfluss nimmt“, warnen die Verfasser. Die Prüfer betonen, dass die Aufseher das Ministerium in einigen Fällen informieren mussten, bevor sie eigene Maßnahmen ergriffen.
Vor allem aber stellen die europäischen Prüfer grundsätzliche Probleme bei der Zusammenarbeit von BaFin und DPR fest. Beide unterlägen strengen Vertraulichkeitsregeln, die eine effektive Kommunikation verhinderten.
Zudem seien sich die beiden Einrichtungen offenbar über ihre Kompetenzen nicht einig und auch nicht darüber, welcher Stelle bei Bilanzbetrug oder Anzeichen von Betrug welche Rolle zukomme. „Die ESMA stellt der deutschen Finanzaufsicht und Finanzminister Scholz ein ganz schlechtes Zeugnis aus“, sagte denn auch Markus Ferber, der Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments „Offenbar gibt es in der deutschen Finanzaufsicht ein großes Durcheinander bei den Zuständigkeiten, was im Ergebnis zu einem mangelnden Informationsaustausch und einem völlig ineffektiven Aufsichtshandeln führt.“
Die Prüfer äußern sich auch zu den Börsengeschäften von Mitarbeitern der BaFin: Dass ausgerechnet Mitglieder der Abteilung für Marktmissbrauch mit Wirecard-Aktien gehandelt hätten, sei „beunruhigend“, schreiben sie. Der BaFin fehlten Informationen zum Aktienbesitz ihrer Mitarbeiter. „Das weckt Zweifel an der Stabilität der internen Kontrollsysteme, wenn es um Interessenskonflikte der Mitarbeiter gegenüber Herausgebern von Wertpapieren geht.“
Die ESMA-Kritik an dem „erhöhten Risiko der Einflussnahme durch das Finanzministerium“ sorgt für ganz unterschiedliche Interpretationen im politischen Berlin.
Der SPD-Abgeordnete Jens Zimmermann legte die Formulierung als Entlastung für den Parteigenossen und Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aus: „Der Punkt der zu großen Nähe der Finanzaufsicht zum Bundesfinanzministerium ist bemerkenswert. Bislang lautete der Vorwurf ja eher, dass das Ministerium von Olaf Scholz nicht genug Einfluss genommen hat“, sagte Zimmermann, der für die SPD im Wirecard-Untersuchungsausschuss sitzt.
Andere Parteien sehen in den ESMA-Aussagen dagegen vor allem Kritik an Scholz und seinem Ministerium. „Der Bericht widerspricht fundamental den Behauptungen des Bundesfinanzministers, die BaFin habe in der Causa Wirecard jederzeit unabhängig handeln können“, sagte Untersuchungsausschussmitglied Hans Michelbach vom SPD-Koalitionspartner CSU.
Die materiellen und auch strukturellen Mängel, die die ESMA aufliste, müssten ausgeräumt werden, nur so lasse sich der durch das Wirecard-Desaster beeinträchtigte Ruf des Finanzplatzes Deutschland wieder herstellen. „Gemessen am Bericht, ist der von Finanzminister Scholz vorgelegte sogenannte Aktionsplan unzureichend.“
Zu den bereits im Sommer präsentierten Reformvorschlägen gehört, dass die Finanzaufsicht BaFin ungehindert Fälle an sich ziehen kann und eine Schnelle Eingreiftruppe bekommt. Die Aufsicht soll besser mit der Finanzpolizei kooperieren. Auch die Vorschriften zum Aktienhandel für BaFin-Mitarbeiter sollen verschärft werden. Bislang liegt noch kein Gesetzentwurf zur Umsetzung des Aktionsplans vor.
„Eine Ohrfeige für den Finanzminister“
Kay Gottschalk, Vertreter der AfD im Ausschuss, begrüßte die Aussagen der europäischen Aufsichtsbehörde: „Man kann der BaFin nur ein negatives Zeugnis attestieren und feststellen, dass die ESMA in ihrem Bericht völlig recht hat“, sagte er und verwies auf das „Kompetenzwirrwarr“.
Die Opposition sieht durch die ESMA-Aussagen die Rolle von Olaf Scholz geschwächt, weitreichendere Reformen seien notwendig. „Das ist eine Ohrfeige für den zuständigen Finanzminister“, sagte Danyal Bayaz von den Grünen.
Die Ergebnisse der ESMA untermauerten die Notwendigkeit und die Bedeutung des Wirecard-Untersuchungsausschusses für die Neuausrichtung der BaFin. „Eine Mini-Reform wird hier nicht reichen, es wird auch über die strukturelle Frage einer stärkeren Unabhängigkeit zu sprechen sein.“
Florian Toncar von der FDP geht noch einen Schritt weiter. „Damit ist endgültig klar, dass Wirecard eine Causa Scholz ist“, sagte er. Die bisher von Olaf Scholz und seinen Leuten vorgebrachte Schutzbehauptung, man habe während einer laufenden Prüfung der Wirecard-Bilanz durch die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) nichts unternehmen können, breche in sich zusammen, denn es sei nun erwiesen, dass das Ministerium massiv mitgemischt habe.
„Damit erhärtet sich auch der Verdacht, dass Wirecard politischen Schutz genossen hat“, sagte Toncar. Nichts anderes meint aus seiner Sicht die ESMA, wenn sie Zweifel an der Unabhängigkeit der Finanzaufsicht vom Bundesfinanzminister äußert.
In diese Richtung geht auch eine Klage der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger, die gerade vorbereitet wird. Ein von ihnen in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass aufgrund der fehlerhaften Umsetzung der europäischen Transparenzrichtlinie ein Anspruch gegenüber dem deutschen Gesetzgeber, also der Bundesrepublik Deutschland, bestehe. Auch BaFin-Mitarbeiter hätten möglicherweise ihre Pflichten verletzt.
Aktuell sprechen die Anlegerschützer mit Rechtsanwälten, die auf das öffentliche Recht und Staatshaftung spezialisiert sind. Zudem haben sie die Ergebnisse des Gutachtens mit einem Prozesskostenfinanzierer ausgetauscht, der möglicherweise die Finanzierung der Klagen geschädigter Anleger übernehmen würde.
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